Einer der wohl wertvollsten Filme des Jahres könnte nicht etwa Kassenschlager wie der neue Bond oder Borat werden, sondern ein Streifen mit dem Titel:
"Das kurze Leben des José Antonio Guiterrez". Seit 7. Dezember läuft er beinahe unbemerkt vom Massenstrom im Berliner Kino
fsk.
José Antonio Gutierrez war einer von 300.000 Soldaten, die die US-Armee in den Irak-Krieg geschickt hat. Wenige Stunden nach Kriegsbeginn ist sein Foto um die Welt gegangen: Er war der erste tote Soldat auf amerikanischer Seite, der in diesem Krieg im Gefecht gefallen ist. Gekämpft hat er als so genannter Greencard-Soldier - einer von etwa 32000, die in der US- Armee für ein fremdes Vaterland kämpfen.
Der Film erzählt die unglaubliche Geschichte eines ehemaligen Straßenkindes aus Guatemala, das sich auf die weite Reise immer nordwärts machte - voller Sehnsucht und Hoffnung nach einer Zukunft - und schließlich weitab von seiner Heimat als so genannter amerikanischer Held gestorben ist.
Er wurde hernach der erste „Medienstar“ des Krieges als erster offzieller Toter auf US-Seite heroisiert; zu Tode gekommen durch so genanntes „friendly fire“ - also getötet durch die eigenen Reihen, die ihn versehentlich ins Visier genommen haben.
Filmemacherin Heidi Specogna und Co-Autorin Erika Harzer gehen weit über diese Informationen hinaus, recherchierten, wo Guiterrez aufgewachsen ist, welche Träume er hatte, wo er einmal hinwollte.
Guiterrez endete 29-jährig 2003 im Sand des Irak. Ironie der US-amerikanischen Moral: Hernach, also postum, wurde ihm die US-Staatsbürgerschaft verliehen. Offiziell war er also gar nicht der erste getötete US-Soldat des Irak-Krieges. Erst die Dramaturgie des US-Krieges ließ ihn dazu werden; postum schändlich missbraucht als feiges Symbol des Bush-Krieges. Immerhin gewährten sie ihm Emigration im Tod mit einer Greencard-Beerdigung auf dem nationalen Soldatenfriedhof Arlington.
Deutschland ist betrunken; seit fünf Monaten. Wie passend, bei so viel Fußball. Erst ließ es sich von Alt-Bundestrainer Jürgen Klinsmann einen über den Durst einschenken. Seit Jüngstem - längst trocken von Klinsmann - wurde die vereinte deutsche Fußballseele rückfällig durch Sönke Wortmanns Doku-Drama „Deutschland - ein Sommermärchen“. Jener Regisseur, der gern selbst unter den Klinsmännern zur WM im eigenen Land aufgespielt hätte, es aber Über Westfalia Herne als Zweitligaprofi nie hinaus geschafft hat, beschert uns die WM in den bevorstehenden Winter hinein. More...Wer aus dem Film herausgeht - so wie bislang Über drei Millionen Kino-Klinsmänner - der fühlt sich gleich ohne einen Herbst in den Winter versetzt. „Deutschland - ein Wintertrauma“ dürfte der weit passendere Titel für Wortmanns Video sein. Seine Botschaft wird schnell deutlich: „Deutschland - Du hast einen Wunderheiler - Jürgen K.“ Beinahe zu jedem Szenenwechsel verkündet der wahlkalifornische Blondschopf seine schlichten Wahrheiten. Da ständen die Polen vor dem Spiel gegen die Deutschen „mit dem Rücken zur Wand“. Also schlussfolgert Klinsmann brüllend: „Und wir knallen sie durch die Wand.“ Vor der Achtelfinalpartie gegen Schweden „brennt der Baum“ bei Klinsmann. Unfreiwillig offenbart uns Wortmann: Eigentlich brennt nur Klinsmann. Die Spieler lassen sich in der Kabine kaum anstecken, lümmeln auf ihren Plätzen herum. Es bleibt eine Egomanen-Show, bei der sich Hauptdarsteller Klinsmann seiner Wirkung bewusst ist - ein Schulungs-Video in Narzissmus.
Was für Einblicke einer pseudo-voyeuristischen Wortmann-Kamera? Vielmehr verhindert Wortmann („Das Wunder von Bern“) den wahren Einblick. Wo bleibt der große Schnitt auf Oliver Kahn vor dem Eröffnungsspiel in seiner Bayern-München-Arena? Schließlich musste er seinen Platz an Jens Lehmann abtreten zu Kahns wichtigstem Turnier seines Lebens. Auch sonst keine Schnitte auf Kahn, der als einziger Spieler nach dem 4:2-Auftakt gegen Costa Rica noch minutenlang auf der Bank verharrte und sichtbar darüber grübelte: Weshalb spiele ich hier nicht mit? Das sehen wir nicht; das kennen wir aber aus den Fernsehbildern von damals. Stattdessen Jubel und Schulterklopfen in der Kabine von Klinsmann - das Erwartete wird gesendet.
Warum sehen wir eine chronologische Abfolge der WM? Das ist keine Dramaturgie, das ist schlichtes Abspulen von Geschehenem wie beim Zusammenschnitt eines Fußballspiels. Warum sehen wir vor jedem Spiel der Deutschen immer die gleichen Rituale? Eine Kabinenansprache hätte genügt. Da gibt es eine, die alles verdeutlicht und somit gereicht hätte: Vor dem Argentinien-Spiel läuft Klinsmann zur Hochform auf. Das kommt rüber. Klappe!
Stattdessen müssen wir Klinsmann auch gegen Italien in gleicher Pose Über uns ergehen lassen. Nein, lieber Sönke Wortmann, das gerät aus dem Ruder, weil hier ein Fußball- und Klinsmann-Fan Regie führt. Offenbar brauchte der Regisseur selbst die Anfeuerung, um den Film überhaupt zu Ende zu bringen.
Leider strotzt der Film vor Déjà -vús: La Ola von Polizisten an der Straße, dann von Bundeswehrrekruten an der Straße. Besser wirkt die erste Welle, weil es nur vier Polizisten auf einer einsamen Straße sind. Ein starker Augeblick, der abgeschwächt wird, als Wortmann eine endlos lange Straße unzählige Rekruten auf die gleiche Weise jubeln lässt. Eine reichlich ärgerliche und bedeutungsleere Wiederholung.
Zwar übermittelt Wortmann uns immer mal wieder auch starke Bilder; aus den Spielen, aus der Kabine, von den Busfahrten. Retten kann das den Film keineswegs. Da hat er schon verloren. Denn Wortmann missachtet filmische Regeln. Zu einer Dopingprobe des Deutsch-Schweizers Oliver Neuville klebt die Kamera an dem Stürmer, der sich beobachtet fühlt und erstmal sagt, so könne er nicht. Das hätte gereicht. Nur Wortmann nicht. Der bleibt hinter Neuville und zeigt uns durch den geöffneten Türschlitz das entblößte Hinterteil, bis es dann hörbar aus Neuville herausplürrt. Hahahaha! Nur: Witzig war Wortmanns „Der bewegte Mann“, nicht Neuvilles Unpässlichkeit.
Von hundert Stunden (6000 Minuten) Videomaterial schnitt Wortmann 108 Minuten für sein Sommermärchen heraus und enthielt uns die besten Szenen vor. Wo blieben die Mannschaftsbesprechungen? Zu sehen bekommen wir nur eine Klinsmann-Ansprache zum Thema Medien. Wie verbrachten die Spieler ihre Freizeit, die Abende, was aßen sie zum Frühstück, was zum Abendbrot, was vor den Spielen, was danach? Stattdessen enthüllt man uns den ominösen Elfmeter-Zettel Lehmanns für das Argentinien-Spiel. Nur kannten wir den längst. Zur Premiere in Berlin zum bedeutungsschweren Tag der deutschen Einheit am 3. Oktober fehlten zwei Darsteller: Klinsmann und Kahn. Wortmann sagte, keiner der beiden habe ihm an diesem Tag gefehlt. Mehr muss man nicht mehr sagen. Alle anderen haben schön gefeiert - sich selbst unter Wortmann, ihrem neuen Vorjubler.
Für alle, die das im Kino nicht alimentieren wollten, gibt's am Nikolaustag in der ARD die kostenfreie - na ja, gebührenfinanzierte - Variante ab 20.15 Uhr. Just an dem Tag, als Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble die Fußball-WM voller Eigenlob als "sportlichen, wirtschaftlichen und politischen Erfolg" in einer extra veranstalteten Pressekonferenz mit dem DFB-Kämpen Dr. Theo Zwanziger bezeichnete, übertragen auf Phoenix. Kein Wort Über radikale Ausschreitungen in den letzten Wochen auf deutschen Fußball-Schauplätzen. Man habe Über 10000 Arbeitsplätze geschaffen. Kein Wort darüber, wie viele von denen wieder auf der Straße stehen, weil sie einem WM-befristeten Job nachgegangen waren. Schäuble konstatierte vielmehr, dass es mit der WM einen außerordentlichen Beitrag für Integration in Deutschland gegeben habe. Das zeige auch der Film. So viel staatlich verordneter Erfolg war selten! Filmkritik ausgeschlossen bei einem Streifen, den die Tagesschau noch kurz vor der Ausstrahlung am Abend des Nikolaustages angepriesen hatte. Welch ein Trauma! Armes, betrunkenes Deutschland ...